Zivilgesellschaft sollte nicht idealisiert und nicht absolut gesetzt werden. Sie ist kein Ersatz für politische Opposition. Die Zivilgesellschaft besteht nicht nur aus Idealisten. „Wir sind nicht allwissend und haben nicht per Definition Recht.“ Es war ein unerwartetes Eingangsstatement, sehr vermittelnd und auf Ausgleich setzend, welches der Politikwissenschaftler und Umweltaktivist Hans Hedrich zu Beginn des Hermannstädter Gesprächs „Zivilgesellschaft als Gefahr für die korrupte politische Klasse“ abgab. Das Lesen seiner Internetseite „neuerweg.ro“ deutet auf einen stetigen Kämpfer hin, doch Hedrich sagt: „Es ist verlorene Lebenszeit, wenn die Zivilgesellschaft gegen die Politik ankämpfen muss, auch wenn das zu diesem historischen Zeitpunkt in Rumänien notwendig ist. Viel besser wäre, wenn wir alle unser kleines Stück Arbeit verrichten und etwas Konstruktives aufbauen.“ Das klingt nach kommunitaristischen Gemeinschaftsdenken und Bürgern, die eigenschaftslos und isoliert in Erscheinung treten.
Nicht dass Hans Hedrich kein Kämpfer ist, in Schäßburg/Sighișoara hat er sich mit der Politik und der öffentlichen Verwaltung angelegt und Gerichtsprozesse geführt. „Ich habe gemerkt, dass die konstruktive Haltung als Begleiter naiv ist und zu nichts führt, wenn man merkt, dass die Politik die Gesellschaft in eine Richtung entführt, die gegen Gesetze und das Gemeinwohl verstößt.“ Insbesondere vor diesem Hintergrund hätte der Besucher einen osteuropäischen Politikwissenschaftler erwartet, der den Staat schlechthin mit der pervertierten bürokratischen Herrschaft des Systems identifiziert – von den anderen Gesprächsteilnehmern waren keine „radikalen“ Positionen zu erwarten.
Neben Hans Hedrich und Moderator Răzvan Marcu saßen Dr. Roxana Stoenescu, Dozentin am Departement für Internationale Beziehungen und Deutsche Studien der Babeș-Bolyai-Universität in Klausenburg/Cluj-Napoca, Ciprian Ciocan, Direktor der Bürgerstiftung „Funda]ia Comunitare Sibiu“ sowie Karoline Gil vom Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart auf dem Podium. Es war das erste Mal, dass ein „Hermannstädter Gespräch“ – veranstaltet vom Demokratischen Forum der Deutschen in Hermannstadt (DFDH) – bilingual stattfand. Über 50 Zuhörer waren in den gut gefüllten Spiegelsaal im Forumshaus gekommen.
Es war eine Diskussion, die entgegen dem provokativen Titel erstaunlich emotionslos geführt wurde. Viel Zeit wurde damit aufgewandt, den Begriff Zivilgesellschaft zu definieren. Ein Begriff, der im östlichen Europa nach der politischen Wende 1989/90 zum Modewort avancierte und in den vergangenen Jahren als Synonym für die Straßenproteste gegen das Goldbergbauprojekt in Ro{ia Montan˛ oder die Eilverordnung Nr. 13 genutzt wurde. In einem Land, in welchem politische Begriffe nur Etiketten ohne Inhalt sind, ist es allerdings durchaus notwendig, auch eine Begriffsklärung vorzunehmen.
Die Entwicklung der rumänischen Zivilgesellschaft hat Dr. Roxana Stoenescu vorgenommen. Sie sagt, bis zum EU-Beitritt 2007 hat sich die rumänische Zivilgesellschaft nur sehr langsam entwickelt. Die erste große Bewegung waren die Proteste gegen das Goldbergbauprojekt in Ro{ia Montan˛, die im Sommer 2013 ihren Höhepunkt erlebten. Hedrich, der in diesem Kampf selbst sehr stark aktiv war, sagt: Es war nicht der erste Protest und auch nicht der Anfang des zivilgesellschaftlichen Engagements, aber es war ein Protest, der in großer Zahl jüngere Menschen auf die Straße getrieben hat.
Natürlich kommen die interessierten Zuhörer bei dieser Form von Veranstaltung nicht mit der „anderen Seite“, den korrupten Politikern ins Gespräch, doch gaben die Gesprächsteilnehmer einen Einblick in die Vielseitigkeit von Zivilgesellschaft und bürgerlichem Engagement. Denn in der anschließenden Diskussion gab auch Bürgermeisterin Astrid Fodor einen Einblick in ihre Arbeit mit den Bürgern der Stadt: „Zur Ausarbeitung der Entwicklungsstrategie für Hermannstadt habe ich alle Stadtviertel besucht. Wir haben öffentliche Debatten organisiert und ich habe dabei eines festgestellt: es interessiert die wenigsten, was mit Hermannstadt in Zukunft passieren wird. Jeden interessiert es, was vor seinem Hauseingang passiert, dass das Pflaster vor dem Eingang gerade verlegt wurde oder dort ein Loch ist, dass der Zierbaum geschnitten wird oder nicht, dass nicht die Oltenier kommen und ihm seinen Parkplatz wegnehmen. (…) Als ich nach den Zukunftsprojekten gefragt habe, da gab es dann keine Antworten mehr.“
Es war eine Gesprächsrunde, die die Hermannstädter Gespräche erweitert hat. Zum ersten Mal wurde ein Gespräch bilingual mit Simultanübersetzung geführt, sodass auch Bürger aus der Mehrheitsgesellschaft die Möglichkeit der Teilnahme hatten und auch kamen. Die nächste Gesprächsrunde wird bereits am 2. Juli stattfinden, dann mit dem Thema „Autobiographien der Nation: Schulgeschichtsbücher in Rumänien und das Jahr 1918“.